Ein Buch über den gar nicht so Heiligen Berg in Bonn? Das scheint absurd. Wird doch der im Volksmund so genannte Heilige Berg am Rhein vom jesuitischen Aloisiuskolleg (AKO) gekrönt, das so prominente Absolventen vorweisen kann wie Thomas de Maizière, Till Brönner, Stefan Raab und Florian Henckel von Donnersmarck. Seit gut 90 Jahren thront das AKO also nicht nur über Bonns Stadtteil Bad Godesberg. Mit dem Nachmittagsprogramm AKO-PRO-Seminar gilt die bis 2002 reine Jungen-Internatsschule als Kaderschmiede der Nation.
Diese Eliteschule also in Verbindung mit den Tabuthemen Missbrauch und Kindernacktfotos zu bringen, das hatte sich vor 2010 nur Altschüler Miguel Abrantes Ostrowski gewagt – um daraufhin als Nestbeschmutzer verleumdet zu werden. 2010 riss dann der bundesweite Missbrauchskandal auch das AKO und sein AKO-PRO-Seminar in ihre tiefste Krise. Als Journalistin vor Ort habe ich den für alle Seiten schmerzhaften Aufklärungsprozess begleitet. Genau vier Jahre, nachdem die Betroffenen an die Öffentlichkeit gingen und der Rektor zurücktrat, erscheint mir nun die Zeit reif, das Thema publizistisch anzupacken.
Das vorliegende Buch leistet also im Frühjahr 2014 eine Art Kassensturz: nach vier harten Jahren der Auseinandersetzung am AKO und mitten in einer neuen heißen Debatte, die die Gesellschaft allgemein über die Legalität von nicht familiären Kindernacktbildern führt. Der Machtmissbrauch, der das AKO offensichtlich über Jahrzehnte im Griff hielt und innerhalb dessen sexueller Missbrauch und das Fotografieren nackter Schüler nur eine Spielart darstellte, wird im Buch aus den unterschiedlichen Perspektiven analysiert. Alle Seiten beteiligten sich am Projekt: Betroffene, deren Angehörige, das Kolleg, sein Internat, Vertreter des Ordens, die Stadt, die Lokalpolitik, ein Vertreter der Justiz und der Opferschutz. Ich bedaure jedoch sehr, dass ich den ehemaligen Rektor Pater Theo Schneider nicht für eine Mitarbeit gewinnen konnte.
Dabei macht das Buch Hochbrisantes wie neue Funde von Kindernacktfotos und Selbstmordfälle von AKO-Schülern erstmals öffentlich, und zwar im direkten Gespräch zwischen Betroffenen und Kolleg. Altschüler schildern zum ersten Mal, was auch ab 2010 in der Aufklärung von AKO- und AKO-PRO-Fällen schief lief. Daneben stellen Vertreter des Ordens und des AKO die Strukturänderungen und Präventionsmaßnahmen vor, die aus der Krise heraus entwickelt wurden. Und plötzlich werden aus den unterschiedlichen Blickwinkeln Schnitt-mengen sichtbar. Lösungsoptionen und Perspektiven werden formuliert. Formen des so bitter nötigen Dialogs werden gesucht – und exemplarisch gefunden.
Dieses Buch zeigt, dass es letztlich allen seinen Autoren darum geht, jeglichem Machtmissbrauch auf dem Heiligen Berg die Rote Karte zu zeigen. Und den Betroffenen das Leben endlich lebenswert zu machen. Wie destruktiv erlebter Missbrauch heute noch wirkt, wurde mir übrigens während der Buchproduktion erneut schmerzhaft klar: als einer der Betroffenen sich das Leben zu nehmen versuchte.
Ende 2012 hatten die Patres Godehard Brüntrup, Christian Herwartz und Hermann Kügler ebenfalls im Kohlhammer Verlag mit dem viel beachteten Titel „Unheilige Macht“ den Vorläufer dieses Buches herausgegeben. Ihnen war damit mit Blick auf sämtliche Jesuitenkollegs die erste öffentliche Selbstreflexion des Ordens gelungen. Doch es fehlte Elementares, wie die Herausgeber zugaben: nämlich die Betroffenenstimmen. Auch habe man das Thema am AKO nur bis 2007 behandeln können. Der Aufklärungsprozess auf dem Heiligen Berg war, im Gegensatz zu dem der anderen Kollegs, 2012 noch in vollem Gange.
Das vorliegende Buch schließt nun diese Lücken. Und es kann mit zeitlichem Abstand auch Neuland betreten. Schon die Einführungen schreiben Seite an Seite Matthias Katsch, Sprecher der Betroffenengruppe Eckiger Tisch, und Pater Godehard Brüntrup SJ. Oh nein, die beiden formulieren natürlich nicht unisono. Doch sie sind sich darin einig, dass im Falle des AKO unbedingt weitere Schritte gegangen werden müssen, „die Macht zu entmachten“. Etwa auch mit Hilfe dieses Buches.
In Kapitel 1 hat die Herausgeberin die Fakten rund um die spektakulären Fälle mutmaßlichen Missbrauchs am AKO und AKO-PRO-Seminar zusammengestellt: von einer Chronologie der Ereignisse über den Stand strafrechtlicher Ermittlungen bis zu den Ergebnissen der Aufklärungsberichte.
In Kapitel 2 und 3 geht der Blick noch einmal zurück in die Jahre kurz vor Ausbruch der Krise, als das AKO und der Orden ihre Chance, fair aufzuklären, verspielten und „mit Gelassenheit“ abwarteten: Miguel Abrantes Ostrowski schildert Ungeheuerliches aus seinem Schlüsselroman „Sacro Pop“ von 2004. Die Herausgeberin analysiert die Reaktionen in Kolleg, Orden, der Presse und im Internet, als „die Bombe“ am AKO aber noch nicht zur Detonation kam.
Das geschah auch 2007 noch nicht, als ein Betroffener urplötzlich vom Orden auf die Nacktfotos angesprochen wurde, die der vormalige Schulleiter von ihm und anderen Kindern geschossen hatte. „Werner Permanent“ schildert in Kapitel 3 den „Missbrauch des Missbrauchs“: Denn „nie waren Kinder nackter als auf diesen Fotos.“ Und Pater Georg Maria Roers SJ enttarnt von Jesuitenseite her die Fotobeute seines Ordensbruders: als zu Bild gewordene Pädophilie.
In Kapitel 4 erheben weitere Betroffene an AKO und AKO-PRO-Seminar, also gestandene Männer aus sechs Kollegsjahrzehnten, erstmals ihre Stimme. Unter dem Motto „Ich will endlich gehört werden“ haben sie sich erschütternde Beiträge abgerungen. Ich danke ihnen allen, mir diese Einblicke in ihre dunkelsten Jahre anvertraut zu haben. Die Texte sind das Herzstück dieses Buches. Meist anonym haben die Schreiber lange um den rechten Wortlaut gerungen. Mir war wichtig, dass sie an keiner Stelle ihrer Würde beraubt werden. Ihre tiefste Verzweiflung ist ohnehin nur zwischen den Zeilen spürbar. Sie haben sich in einem aufreibenden Schreibprozess ihren Gespenstern gestellt. Ihr Kampf ist im aktuellen Stadium der Aufarbeitung noch lange nicht gewonnen.
Kapitel 5 bietet die Analysen des Eckigen Tischs, der Gruppe am AKO Betroffener und ihrer Unterstützer, die ein ehemaliger AKO-Lehrer 2010 noch als „Ungeziefer“, das man endlich zertreten müsste, schmähte.[1] Rudolf Jekel, Anselm Neft, Jürgen Repschläger und Heiko Schnitzler bringen die Defizite in Aufklärung und Aufarbeitung auf den Punkt. Und fordern, dass sich Orden und Kolleg endlich mit Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit dem Dialog stellen.
Kapitel 6 wiederum bündelt wichtige aktuelle Stimmen des Kollegs und des Ordens. Mit den Patres Johannes Siebner, Klaus Mertes und Christian Herwartz stellen sich der heutige AKO-Rektor, der erste jesuitische Aufklärer am Berliner Canisius-Kolleg und der Pater dem Thema, der als Blogger im Internet den Aufarbeitungsprozess weiter trieb. Pater Mertes schreibt zudem in der Rolle des Altschülers wie auch Innenminister Thomas de Maizière. Beide sind damit die bislang einzigen prominenten Absolventen, die zum Tabuthema Farbe bekennen. Dazu kommt AKO-Internatsleiter Christopher Haep, der die Eckpunkte einer präventiven Neuausrichtung des gesamten Kollegs formuliert.
Und Haep ist es auch, der den Mut findet, sich für dieses Buch erstmals in einem direkten Gespräch mit Heiko Schnitzler den Fragen des Eckigen Tischs zu stellen. Kapitel 7 wartet also mit dem auf, was für die weitere Aufarbeitung unumgänglich ist: mit konstruktivem Dialog. Quintessenz nach einem hitzigen Austausch von Argumenten, ja auch nach der Preisgabe brisanter neuer Informationen: „Ohne die Betroffenen kann es am AKO nicht zu den notwendigen Veränderungen kommen“, sagt Haep. Allein diesen harten Disput auf die Spur gebracht zu haben, war mir das gesamte diffizile Buchprojekt wert.
Bleibt der Blick auf Stellungnahmen aus Opferschutz, Stadt, Lokalpolitik, Justiz und Medien. In Kapitel 8 fordern Conny Schulte, Wilma Wirtz-Weinrich und Angelika Oetken, dassendlich auchdie Schulaufsicht und Politik ihre Verantwortung wahrnehmen. Schuldezernentin Angelika Maria Wahrheit schildert die Position der Stadt. Die Schulausschussvorsitzende Dorothee Paß-Weingartz legt den Finger in die lokalen Wunden: „Die Opfer von AKO und AKO-PRO wurden auch in Bonn alleingelassen.“Opferanwalt Rudolf von Bracken plädiert für die Aufhebung der Verjährungsfristen bei Missbrauch. Und die Herausgeberin hinterfragt die Rolle der Medien: Werden sie sich nach den Erfahrungen der Missbrauchskrise im Sinne des Kinderschutzes auch für eine baldige Verschärfung der Regelung gegen Kinderpornographie einsetzen?
Der Missbrauchsskandal an katholischen Schulen offenbare eine Glaubwürdigkeitskrise der Kirche, schrieb 2010 Kirchenrechtler Professor Norbert Lüdecke.[2] Verursacht sei die Krise nicht durch Medien oder Kirchenfeinde, nicht nur durch die Verbrechen der Priester, sondern vor allem durch das Versagen der Verantwortlichen im Umgang damit. Diese Perspektive ist auch noch 2014 in Bezug auf den Umgang des Jesuitenordens und des AKO mit ihrer Missbrauchsgeschichte aktuell: Was weiterhin gefragt ist, ist vor allem Glaubwürdigkeit.
Ich danke allen, die sich vertrauensvoll an diesem Projekt beteiligt haben. Möge das Buch als ein weiterer Schritt im Aufarbeitungsprozess dazu beitragen, dass bald nicht mehr vom „Unheiligen Berg“ berichtet werden muss. Und dass in der Debatte um Kindernacktfotos das Leid der Opfer nie aus dem Blick gerät.
Ebba Hagenberg-Miliu im Februar 2014